11. Juli 2025

G 1/24 (Bezüglich der Anmeldung EP 14806330.8) – ENTSCHEIDUNG 

G1/24 Zusammenfassung

Frage 1

Artikel 69 (1) EPÜ lautet: „Der Schutzbereich des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung wird durch die Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.“ Diese Bestimmung ist in Prüf- und Einspruchsverfahren nicht unmittelbar anwendbar.

Die Große Beschwerdekammer hat jedoch die Praxis der Beschwerdekammern bestätigt, Artikel 69 (1) Satz 2 während der Prüfung und des Einspruchs analog anzuwenden.

Frage 2:

Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass bei der Auslegung der Ansprüche in der Prüfungs- oder Einspruchsphase immer auf die Beschreibung und die Zeichnungen Bezug genommen werden muss, nicht nur in Fällen von Mehrdeutigkeit oder Unklarheit.

Frage 3

Diese Frage betraf die Relevanz von Begriffsdefinitionen in der Beschreibung. Die Große Beschwerdekammer sah diese Frage durch ihre Antwort auf Frage 2 als beantwortet an. Daher wurden zu diesem Punkt keine weiteren Ausführungen gemacht.

Unsere Einschätzung

Ein wesentlicher Aspekt der Entscheidung ist die Bestätigung der Großen Beschwerdekammer, dass Ansprüche in der Prüfung und im Einspruchsverfahren genauso auszulegen sind wie im Verletzungsverfahren.

Klarheit der Ansprüche

Für das Heranziehen der Beschreibung oder der Zeichnungen ist es keine Voraussetzung, die Ansprüche nicht klar sind. Dennoch könnten die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ (Klarheit der Ansprüche) an Bedeutung gewinnen.

Etwas überraschend stellte die Große Beschwerdekammer in Punkt 20 der Entscheidung fest:

„Die oben offenbarten Erwägungen unterstreichen, wie wichtig es ist, dass die Prüfungsabteilung sorgfältig prüft, ob die Ansprüche den Klarheitserfordernissen des Artikels 84 EPÜ genügen. Die richtige Reaktion auf jede Unklarheit in einem Anspruch ist eine Änderung.“

Diese Feststellung ist überraschend, da die Große Beschwerdekammer zuvor bestätigt hatte, dass die Ansprüche in jedem Fall unter Verwendung der Beschreibung auszulegen sind – unabhängig davon, ob sie klar sind oder nicht.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Bemerkung zur Pflicht der Prüfungsabteilung, der Klarheit großes Gewicht beizumessen, im Kontext dieser Entscheidung etwas unpassend.

Die Aussage könnte auf den Präsidenten des EPA zurückzuführen sein, der eine strenge Anwendung der EPA-Praxis anregte und die Vorrangstellung der Ansprüche forderte, wobei die Beschreibung und die Figuren nur eine untergeordnete Rolle spielen sollten. Gemäß dem Präsidenten muss ein Begriff, zu dessen Verständnis die Patentschrift herangezogen werden muss, gemäß Artikel 84 EPÜ als unklar beanstandet werden, und der Anspruch muss so geändert werden, dass er die Bedeutung und den Umfang des Begriffs widerspiegelt. Die strenge Haltung des Präsidenten hat sich jedoch nicht durchgesetzt, und die Große Beschwerdekammer hat sich stattdessen für Harmonisierung und Logik entschieden.

Infolge dieser Erklärung der Großen Beschwerdekammer, in der sie die Bedeutung der Klarheit der Ansprüche hervorhebt, erwarten wir nun, dass die Prüfungsabteilungen die Anforderungen an die Klarheit während der Prüfung erhöhen werden.

Bezüglich des konkreten Falles, der der Entscheidung G1/24 zugrunde liegt, ist die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer nicht ganz schlüssig.

Es ist nun Aufgabe der Technischen Beschwerdekammer zu entscheiden, ob der Fachmann die Ansprüche des angefochtenen Patents im engeren Sinne des Patentinhabers auslegen würde oder ob die Kammer der Argumentation des Einsprechenden folgt und die Beschreibung als angemessene Basis für eine Erweiterung der Bedeutung des Anspruchs auf den Stand der Technik ansieht, was möglicherweise zu einer Feststellung der mangelnden Neuheit führen könnte. Diese Frage muss künftig von Fall zu Fall auf der Grundlage der jeweiligen Sachlage entschieden werden.

Über den Autor

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